20. August 2014

MAKING OF KRASIS - FILMEN IN BERLIN UND WAS HINTER KRASIS STECKT

Krà£sis – ein transnationales, interdisziplinäres Kunst-, Oper- und Filmprojekt in Bern

Vom 21. bis zum 25. August 2014 verwandelt die Video-Installation Krà£sis den Berner Münsterplatz in eine Oper für alle. PassantInnen treffen auf die visuelle Darstellung von vier Georg Friedrich Händel Arien, die für die vier Temperamente stehen. Mit zur Verfügung gestellten oder eigenen Kopfhörern kann sich das Publikum an vier Hörstationen dem Gesang und der Musik je einer Leidenschaft hingeben: der Melancholie von Sandrine Piau, der Freude von Kristina Hammarström, der Wut von Delphine Galou oder dem Phlegma von Lisandro Abadie.

Romandie trifft Deutsch-Schweiz

Die Idee zu Krà£sis – Opéra Urbain entsteht 2011 inmitten der Wolkenkratzer New Yorks. Die Walliser Opernregisseurin Julie Beauvais arbeitet schon länger an einem Konzept, die Oper über eine Video-Installation in den urbanen Raum zu verschieben. Im East Village trifft sie die bildende Künstlerin Brigitte Lustenberger, die - wie Beauvais - mit ihrem Partner Andreas Ryser und dem gemeinsamen Sohn Marlon bei Linda Geiser einen halbjährigen Stipendiatsaufenthalt verbringt.

Nach ihrer Ausbildung an der l'Ecole internationale de théâtre Jacques Lecoq (http://www.ecole-jacqueslecoq.com/) in Paris beginnt Julie Beauvais ihre Regie-Karriere in den USA und in Genf. Seit 2006 inszeniert sie Opern im In- und Ausland. Immer wieder experimentiert sie mit der Opernmusik, indem sie sie unterschiedlichen Sparten gegenüber stellt und interdisziplinäre Projekte initiiert.

Die in Zürich geborene Foto-Historikerin und in den USA ausgebildete Künstlerin Brigitte Lustenberger spielt mit den Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst und schafft mit ihren fotografischen Bildern ein modernes und doch barockes Universum. Neben der Liebe zur Metropole New York entdecken die zwei Schweizerinnen bald einmal die gemeinsame Leidenschaft zum Barock, das im Schaffen von beiden eine grosse Rolle spielt. Beauvais bringt die Barocke Welt nicht nur über die Musik in die Gegenwart, sondern auch mit ihren durchdachten, beeindruckenden Inszenierungen, Bühnenbilder und Kostümen. Lustenberger setzt sich über inszenierte Fotografien mit dem Barocken Gedankengut und dessen Ästhetik in der heutigen Zeit auseinander.

Krà£sis und die Affetti Barocchi

Beauvais entwickelt die Grundidee von Krà£sis aufgrund der Temperamentenlehre bzw. der Affetti Barocchi, die der Barocken Musik zugrunde liegt. Im Barocken Zeitalter ging man davon aus, dass die Musik direkt auf Körper und Psyche der ZuhörerInnen wirkt, wie bei Wein oder den Matrosen, die – alles andere als lebensmüde – dem Gesang der Sirenen erlagen und starben. Barocke Komponisten arbeiteten deshalb eng mit Medizinern zusammen.

Laut der im Barocken Zeitalter verbreiteten Temperamenten-Lehre sind bei gesundem Körper und intakter Seele die vier Elemente (Feuer, Erde, Wasser, Luft), die den vier Affekten in der Barocken Musik entsprechen, ausgeglichen. Dieser Zustand wird als Krà£sis (griechische für Mischung) bezeichnet. Der barocke Komponist stellte die Affekte in seiner Musik in überhöhter Weise dar, um diese beim Publikum zu entfachen. Je nach Gemütszustand lässt der Zuhörer oder die Zuhörerin die cholerische, die sanguinische, die melancholische oder die phlegmatische Arie auf sich wirken und bringt so die Temperamente zurück ins Gleichgewicht – Krà£sis.

Zusammen mit dem musikalischen Leiter Jean-Philippe Clerc und Brenno Boccadoro, Professor für Musikologie an der Universität Genf, wählt Beauvais vier Arien aus, die die Affekte von vier verschiedenen Temperamenten – cholerisch, sanguinisch, melancholisch und phlegmatisch – transportieren. Die ausgewählten Arien stammen alle von Georg Friedrich Händel und aus drei seiner Opern: Vorrei vendicarmi und Pensa a chi geme aus der Oper Alcina, Dopo notte aus der Oper Ariodante und Se pietà  aus Giulio Cesare.

Wer soll nun die Arien singen? Beauvais, Clerc und Boccadoro sind sich einig, dass wir zumindest versuchen sowohl den einen oder anderen Superstar für das Projekt zu begeistern als auch nach talentiertem Nachwuchs zu suchen. Und das Glück ist auf unserer Seite: Barock-Superstar Sandrine Piau gefällt das Konzept der Verschiebung der Opernmusik in einen anderen Zusammenhang sehr und ist mit im Boot. Die Französin ist eine der ganz grossen Barock Sopranistinnen der Gegenwart und wird für Krà£sis die melancholische Arie interpretieren. Kurz danach sagt die ebenso bekannte schwedische Mezzo-Sopranistin Kristina Hammarström für die sanguinische Arie zu. Wir sind überglücklich! Mit Lisandro Abadie für die phlegmatische und Delphine Galou für die cholerische Arie können wir zwei weitere jüngere SängerInnen verpflichten.

Von der Musik zum bewegten Bild

Die einzelnen Arien werden isoliert und aus dem Kontext der eigentlichen Oper losgelöst und interpretiert – ähnlich wie dies bei SängerInnen und KomponistInnen gegen Ende des Barocken Zeitalters üblich war – und in ein urbanes öffentliches Umfeld gelegt. Die von uns ausgesuchten Arien sind auch musikalische Höhepunkte innerhalb der jeweiligen Oper. Die Arien wurden meistens für eine ausgewählte Sängerin geschrieben. Diese Sängerin durfte damals die Arie auch abändern bzw. selber interpretieren und in andere Opern einbauen. Wie in Barocken Zeiten soll bei Krà£sis die Oper nicht nur einer eher vermögenden Schicht vorbehalten, sondern für eine breite Öffentlichkeit zugänglich sein. Dieser Transfer soll eine Film-Projektion ermöglichen.

Dank eines Landis&Gyr Stipendiums verbringe ich 2013 ein halbes Jahr in Berlin, was mir die Gelegenheit gibt, Locations für die vier Arien zu suchen. Zusammen mit unserer Berliner Dirigentin Kerstin Behnke (http://www.kerstin-behnke.de/) besuchen wir das Funkhaus Nalepastrasse in Berlin, das vom Architekten Franz Ehrlich gebaute, ehemalige Rundfunkgebäude der DDR. Das Funkhaus ist ein wunderschönes Bauhaus-Gebäude, direkt an der Spree gelegen und bietet uns stimmungsmässig unterschiedlichste Drehorte im gleichen Haus.

Ein live spielendes Barockorchester auf dem Set

Gesangs-Solopartien werden von einem Orchester begleitet, was ein äusserst sensibles Zusammenspiel zwischen Gesang und Musik ist. Über Kerstin Behnke finden wir das Neue Barockorchester Berlin unter der Leitung von Anna Barbara Kastelewicz (http://www.kastelewicz.com/). Behnke und Kastelewicz finden für jede Aria die passende Zusammenstellung der Instrumente bzw. MusikerInnen, die während den Filmaufnahmen live spielen werden.

Anders als bei Platten- oder CD-Aufnahmen singen unsere vier SängerInnen vor laufender Kamera, d.h. dass der Gesang und die Musik live und nicht erst später im Studio aufgenommen werden. Als wäre dies nicht schon der Herausforderung genug, filmen wir die Arien in einem einzigen Take. Für die SängerInnen bedeutet dies, dass sie die Arie nicht in einzelnen Teilen, sondern von Anfang bis zum Schluss durch singen müssen.

Am meisten Bauchweh verursacht jedoch die Finanzierung des Projektes. Nur anhand eines schriftlichen Konzepts ist es eine grosse Herausforderung dieses interdisziplinäre und konzeptionell doch eher anspruchsvolle Projekt zu finanzieren. Ausserdem hat jede Stadt, jeder Kanton, jede Stiftung eigene Gesuchseingabe-Vorlagen, die praktisch nie auf interdisziplinäre Projekte ausgerichtet sind. Ist Krà£sis ein Kunst-, ein Film- oder ein Musikprojekt? In welcher Sparte sollen wir warum eingeben? Zweimal müssen wir die Dreharbeiten nach hinten verschieben – doch Anfangs November 2013 ist es dann soweit. Julie, der Tontechniker David Lipka, der wie Beauvais aus dem französisch-sprechenden Teil des Wallis stammt, und ich reisen nach Berlin und treffen unsere Filmcrew, das Barock Orchester und Dirigentin Kerstin Behnke im Funkhaus.

Interdisziplinarität leben

Die SängerInnen kommen nacheinander jeweils für zwei Tage ins Funkhaus. Dann geht es los: Probe mit dem Orchester, Aufbau Licht und Filmset, Anprobe Kostüm, Test Make-Up, Probe vor der Kamera … bis schliesslich «Ça tourne» und «Action» ertönt. Ausser bei einer Location arbeiten wir immer mit Tageslicht, d.h. dass wir nur bis ungefähr 16 Uhr filmen können. Dann geht uns das Licht aus. Die SängerInnen können die Arien nicht mehr als achtmal voll durchsingen … denn Opernsingen ist Hochleistungssport. Die ganze Crew weiss, dass wir mindestens einen perfekten Take haben müssen, in dem alles stimmt: die Performance der SängerInnen (Gesang und Schauspiel) und des Orchesters, die Falten des Kostüms, die Schattierung des Lidschatten, die Einstellungen der Kamera, die Aufnahmen des Tontechnikers, die sich ständig ändernde Lichtsituation, die Geräuschkulisse … und wir haben höchstens acht Versuche pro Arie.

Unsere Crew umfasst 23 Personen – vom Fokus Puller über die Kostüm Designerinnen bis zum Lautenspieler – Menschen aus der Welt der Musik, der Kunst und des Films. Und jede dieser Welten funktioniert nach eigenen Regeln. Die Filmcrew möchte wegen der prekären Lichtsituation gerne schon Mitte des Vormittags die ersten Tests machen, doch die SängerInnen können wegen der Stimme nicht vor 10 Uhr singen. Wir haben eine wunderbare Crew und schaffen es, gemeinsam die Unterschiede zu überwinden und das Beste aus allen herauszuholen. Ich glaube behaupten zu können, dass wir alle sehr offen gegenüber den «anderen» Welten, den «anderen» Kompetenzen waren und so zusammen etwas Neues und Spannendes kreiert und Interdisziplinarität gelebt haben.

Die Installation

Nach der Postproduktion des Bildes in Berlin und der Postproduktion des Tons in Lausanne halten Julie und ich endlich die Krà£sis-Filme bzw. die Festplatte mit den gespeicherten Daten in der Hand. Wir sind überglücklich, die einzelnen Filme funktionieren auch als Ganzes, als Installation nebeneinander!

Jetzt beginnt die Arbeit an der Planung der Installation vor Ort. Antoine Marchon überzeugt mit seinem Konzept von vier freistehenden Videotürmen, die mitten auf dem Münsterplatz stehen. Das Publikum kann den Film einer einzelnen Arie geniessen oder alle zusammen wie eine riesige, sich bewegende Freske ins Auge fassen. Die Musik und den Gesang erfährt das Publikum über Kopfhörer an extra eingerichteten Hörstationen. Sieht der Betrachter oder die Betrachterin anfangs vier isolierte Porträts, in denen Individuen einen emotionalen Leidenschaft erleben, fügen sich die vier Inszenierungen bald zu einem sich ergänzenden Quartett zusammen. Unabhängig scheinende Bilder und Gefühle fügen sich zu einem ausgewogenen System, und das Publikum erfährt die humanistische Theorie der Affetti Barocchi am eigenen Leib. Je nach Gemütszustand lässt der Zuhörer oder die Zuhörerin die cholerische, die sanguinische, die melancholische oder die phlegmatische Arie auf sich wirken und bringt so die eigenen Temperamente zurück ins Gleichgewicht oder die richtige Mischung.

Inspiriert von Krà£sis

Gleichzeitig und inspiriert von Krà£sis kuratiert Anna Bürkli die Ausstellung L’harmonie des extrèmes in der Stadtgalerie Bern. Auch die Ausstellung bezieht sich auf die Hippokrates zugeschriebene Temperamentenlehre. Die ausgestellten Werke bewegen sich in ihrer Anlage um die Grundzüge des menschliches Gemütes: sanguinisch, melanchonisch, phlegmatisch und cholerisch. Die Stadtgalerie eröffnet die neue Saison mit Werken von Saskia Edens, Hess/Meienberg, Juerg Luedi, Brigitte Lustenberger, Gilles Rotzetter und Aline Zeltner. Am Abend der Eröffnung findet zwischen 18 Uhr und 22 Uhr ein Performance-Programm in der Stadtgalerie statt. Zudem wird bei Sonnenuntergang das Opern-Film-Projekt KRASIS auf dem Münsterplatz sicht- und hörbar.

Informationen:
Krà£sis
Vernissage: Donnerstag, den 21. August 2014 ab 20.30 Uhr auf dem Münsterplatz; ab 18 Uhr in der Stadtgalerie, danach gemeinsamer Spaziergang zum Münsterplatz
21. bis 25. August 2014
Jeden Abend von 20.30 Uhr bis Mitternacht auf dem Münsterplatz, Bern
Gratis und barrierefrei zugänglich
Unterstützt von: Pro Helvetia, Loterie romande, Kulturprozent Migros, Kanton Genf, Kanton Wallis, Kanton Bern, Stadt Genf, Stadt Sion, Stadt Bern, Burgergemeinde Bern , Gemeinde Vandoeuvres, Migros Aare, Ernst Göhner Stiftung, Stanley Thomas Johnson Stiftung

Bios:
Julie Beauvais
Die im franzöisch-sprechenden Teil des Wallis geborene Julie Beauvais debutierte als Regisseurin in den USA, nachdem sie an der l'Ecole Internationale de Théâtre Jacques Lecoq in Paris studiert hatte. Als Mitbegründerin des Sprung Theatre in Chicago hat sie unter anderem Capsize und Seep inszeniert.
2003 gründet Beauvais die Companie Mondes Contraires in Genf. Während sieben Jahren ist sie mit ihrer Truppe auf Reisen und erforscht mit ihnen das epische Theater in unterschiedlichen Kontexten.
Seit 2006 inszeniert sie Opern an Opernhäusern und für Oper-Companien in der Schweiz und im Ausland. Beauvais interessiert sich für den Dialog der Oper mit anderen Bereichen und experimentiert im Rahmen ihrer Plattform BadNewsFromTheStars* mit interdisziplinären Projekten wie lyrischen Skulpturen und sucht den Austausch mit dem Publikum in Form von Videoinstallationen, Performances, Filmen und  Spektakeln. Mit einem Atelierstipendium verbringt sie ein halbes Jahr im Red House in Manhattan 2011 und assistiert Michael Counts von der New York City Opera in seiner Inszenierung von Monodramas (Schoenberg, Zorn, Feldman). Im Frühling 2011 erhält Julie Beauvais den Förder-Kulturpreis des Kantons Wallis.
Dieses Jahr tourt sie mit Krà£sis am Festival de la Bâtie in Zusammenarbeit mit dem Grand Théâtre de Genüve und inszeniert Cosi Fan Tutte von Mozart an der Ouverture Opéra Sion zeigen.

Brigitte Lustenberger
Die in Zürich geborene Brigitte Lustenberger studierte Sozial-, Wahrnehmungs- und Fotogeschichte an der Universität Zürich (MA/Lic.Phil.I). In den folgenden Jahren verband sie die Theorie mehr und mehr mit der Praxis und etablierte sich als Künstlerin. Sie zog nach New York und machte den MFA in Fine Art Photography and Related Media an der Parsons The New School of Design in 2007.
Brigitte Lustenberger stellt national und international aus und arbeitet als Gast-Dozentin am Seminar für Kulturwissenschaften und am Institut für Medienwissenschaften an der Universität Basel und an der Hochschule der Künste Bern. Sie zeigte ihre Werke in Einzelausstellungen im Musée de l'Elysée in Lausanne, in der Scalo Galerie in Zürich und New York, im Le Maillon/La Chambre in Strasbourg/Frankreich, in der Madonna#Fust Galerie in Bern, im Photoforum PasquArt in Biel. In Gruppenausstellungen stellte sie u.a. in der Kunsthalle Bern, in der Kunsthalle Luzern, an der Art Cologne, am Centro Internationale de Fotografia in Milano aus. Ihre Arbeiten wurden im In- uns Ausland ausgezeichnet: Grand Prize Winner PDNedu/New York, Golden Light Award Maine, Shots/Corbis Student Photographer of the Year/London, Prix de Photoforum/Schweiz, The Photo Review Comeptition, USA Selection Voies Off at Arles/Frankreich und andere. Sie erhielt Atlierstipendien für Cairo/Ägypten und Maloja/Schweiz und bekam das prestigeträchtige Landis&Gyr Stipendium 2013. Im selben Jahr gewann Lustenberger zum zweiten Mal nach 2002 den Fotopreis des Kantons Bern. Die Künstlerin ist Vorstandsmitglied der Kunsthalle Bern, des Photoforum Biel und der visarte Bern.

Links:
Krà£sis:
krasisproject.blogspot.de
www.facebook.com/events/1464890030427808/
www.facebook.com/operatechnologies

Interview auf Espace 2:
www.rts.ch/espace-2/programmes/matinales/5945109-les-matinales-d-espace-2-du-15-08-2014.html Links:

Brigitte Lustenberger:
www.lufo.ch
www.facebook.com/LustenbergerBrigitte

Stadtgalerie: www.stadtgalerie.ch/ph/